Wir leben in einer Zeit, die von krisenhaften Entwicklungen in vielen Gegenden der Welt geprägt ist. Würdest Du die Einschätzung teilen, dass es schon lange nicht mehr eine solche Verdichtung von zeitgleich auftretenden, sich zuspitzenden weltpolitischen Konflikten gegeben hat?
Ich kann mich tatsächlich kaum an eine derartige Krisendichte, wie wir sie im Moment erleben, erinnern. Aber die Krisen folgen nicht nur immer schneller aufeinander, sie werden auch immer komplexer. Hinzu kommt, dass diese Krisen auf eine immer chaotischere Welt, auf eine immer unklarere internationale Ordnung treffen. Ich fürchte, dass wir uns darauf einstellen müssen, dass die Krise nicht die Ausnahme, sondern Normalfall ist. Hier ist Deutschland als größtes und ökonomisch stärkstes Land in Europa enorm gefordert.
Seit Monaten arbeitest Du unermüdlich an einer friedlichen Lösung des Ukraine-Konflikts. Alle Vereinbarungen, die den Konfliktparteien bislang in teils zähen Verhandlungen abgerungen werden konnten, standen auf wackeligen Füßen. Sie hingen in erster Linie vom guten Willen der Beteiligten ab – und scheiterten nicht selten an der Umsetzung. Welche Entwicklung erwartest Du in der Ukraine? Wie kann es weitergehen, falls der Dialog zwischen Russland und der Ukraine völlig zum Erliegen kommt?
Genau das müssen wir verhindern. Wir können uns keine Sprachlosigkeit leisten. Deswegen scheint es mir trotz aller Schwächen richtig, an den Minsker Vereinbarungen festzuhalten. Mein Eindruck ist: Alle Konfliktparteien erkennen an, dass es erstens ruhiger geworden ist, dass der Waffenstillstand weitgehend eingehalten wird, auch wenn es vereinzelt, immer noch zu Verletzungen kommt. Deswegen lohnt es sich, weiterzuarbeiten – mit dem Abzug der schweren Waffen und mit Schritten hin zu einem politischen Prozess in der Ostukraine. Dazu gehört, dass wir der OSZE die Kontrollmöglichkeiten verschaffen, die sie braucht, um die Einhaltung der Vereinbarungen zu überwachen.
Ein weiterer Konflikt, der auch die SPD-Bundestagsfraktion sehr stark beschäftigt hat, ist das äußerst brutale Vorgehen des IS in Syrien und in den Nachbarländern. Mit den Waffenlieferungen an die Kurden im Nordirak ist die Bundesregierung erstmals von ihrem Grundsatz abgewichen, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern. Was muss getan werden, um dort dauerhaft zu einer Lösung zu kommen?
Dass in den letzten Monaten in Kobane und im Nordirak der Mythos der Unbesiegbarkeit von ISIS widerlegt wurde, ist wichtig. Der Vorstoß der ISIS konnte gestoppt werden. Aber mit militärischen Mitteln allein wird ISIS nicht dauerhaft Herr werden können. Deswegen setzen wir mit der internationalen Gemeinschaft auf eine breiter angelegte politische, militärische und humanitäre Strategie mit dem Ziel, alle Bevölkerungsgruppen in den politischen Prozess einzubinden und ISIS dadurch den Nährboden zu entziehen. Klar ist aber auch: Wir haben in den letzten Monaten eine breite internationale Allianz gebildet und schwierige politische und militärische Weichenstellungen getroffen. Aber vieles davon wird erst langsam Wirkung zeigen. Wir werden einen langen Atem brauchen.
Eine Zeitlang war viel von einer Europäisierung der deutschen Außenpolitik die Rede. Erleben wir nicht gerade eine Renationalisierung? Von einem abgestimmten Vorgehen im Rahmen der dafür zur Verfügung stehenden internationalen Organisationen kann doch bei den erwähnten Konflikten nicht wirklich die Rede sein, oder? Was bedeutet das für die deutsche Außenpolitik in Zukunft?
Von einer Renationalisierung kann man meines Erachtens nicht sprechen. Nimm zum Beispiel die Ukraine-Krise. Die hervorragende Zusammenarbeit mit Frankreich war für die Verhandlungen von Minsk von entscheidender Bedeutung. Und trotz unterschiedlicher nationaler Interessen und historischer Erfahrungen haben wir es geschafft, eine einheitliche europäische Position in der Sanktionsfrage aufrecht zu erhalten. Das ist eine immense Leistung. Wir wissen, dass deutsche Außenpolitik nur in Europa und durch Europa einen Unterschied machen kann. Deshalb war das auch ein Ergebnis unseres Projekts Review 2014: Dass wir Europa noch stärker in der Struktur und in der Politik des Auswärtigen Amts verankern wollen.
(Das Interview wurde für die Landesgruppe Baden-Württemberg geführt. Fotos: photothek.net)
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